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Werner Herzog hat die Zeit der Einschränkungen des öffentlichen Lebens genutzt, um seine Autobiographie zu schreiben. Das Buch mit dem Titel Jeder für sich und Gott gegen alle. Erinnerungen erscheint heute (am 22. August 2022) im Carl Hanser Verlag als gedrucktes Buch und e-Book sowie bei tacheles!/ROOF Music als von Herzog selbst gelesenes, ungekürztes Hörbuch.
Wie kann ein Mensch von so unbändiger Willenskraft gedeihen, dass er es vermag, im peruanischen Dschungel ein 340 Tonnen schweres Dampfschiff über eine Bergkuppe versetzen zu lassen? Ein Mensch von solcher Eigenart und Authentizität, dass er unverwechselbar und prägend wirkt; ein Mensch von solchem Weltendrang, dass er den ganzen Globus, von Patagonien über die Antarktis, Afrika und den Dschungel Südamerikas bis hin in die Sibirische Taiga als Heimat und Atelier nutzt? Ein Mensch, der keine Herausforderung scheut, das Undenkbare auch gegen alle Zweifler wahr macht und so bleibende Spuren hinterlässt, Denkanstöße und neue Perspektiven vermittelt, Tore zu unbekannten Welten öffnet, die das eigene Auge nie hätte schauen können?
Selbstverständlich ist die Rede von Werner Herzog, der in seiner Generation, der Generation der Kriegskinder, sicherlich ein Unikum ist, das nicht seinesgleichen sucht; jeder Versuch Herzog zu kopieren, nachzuahmen, wäre auf allen Ebenen zum Scheitern verdammt. Werner Herzog, der in diesen Tagen 80 Jahre alt wird, hat seine Autobiographie geschrieben, ein „literarisches Ereignis“ wie der Verlag berechtigterweise ankündigt, und er gewährt uns damit tiefgehende Einblicke in sein reiches bisheriges Leben. Er hilft uns zu verstehen, was ihn geprägt hat und wie ein Geist von solcher Energie, Kreativität, Intelligenz und Weite wachsen konnte – insbesondere dadurch, dass er uns auf eine intensive Reise in seine Kindheit und Jugend in Sachrang, Wüstenrot und München mitnimmt, die einerseits von massiven Entbehrungen (z. B. keine Schuhe im Sommer, keine Unterwäsche in den Monaten ohne „r“, Plumpsklo, Hunger und selten Strom) geprägt war, und andererseits von ungewöhnlichen Erlebnissen und Begegnungen, sei es mit den Dorforiginalen in Sachrang – der Maar und dem Siegel Hans – oder Klaus Kinski, der eine Zeitlang in der Münchener Elisabethstraße in der gleichen Pension lebte, in der Herzog mit seiner Mutter und seinen zwei Brüdern in einem kleinen Zimmer untergekommen war.
Es ist müßig, in dieser Besprechung auf biographische Details einzugehen oder vertiefende Beispiele anzuführen, vieles ist bereits bekannt und zu reich ist das Leben Werner Herzogs an Begebenheiten, die jede für sich genommen bereits nacherzählenswert wäre. Nichts von dem, was er uns zu erzählen vermag, ist gewöhnlich, so wie er selbst kein gewöhnlicher Mensch ist. Der Titel seiner Erinnerungen, „Jeder für sich und Gott gegen alle“, ist sein zweiter Versuch nach dem Kaspar Hauser-Film (1974), seine Variation des alten Sprichwortes „Jeder für sich, Gott für uns alle!“ zu etablieren und dem öffentlichen wahrnehmenden Verständnis anzugedeihen. Auch wenn Herzog an keiner Stelle direkt erklärt, warum sie ihm so wichtig ist, aus seinen Schilderungen lässt sich erahnen, dass er auf den Mut und die Tatkraft des eigenen Selbst anspielt, auf das Urvertrauen in das Leben und den eigenen Weg, der genau dann gangbar wird, wenn diese drei Dinge gegeben sind, und nicht Zögerlichkeit und Zweifel das eigene Denken und Handeln bestimmen. Es ist ihm fremd, sein Glück von anderen abhängig zu machen, nicht einmal von Gott.
Im Vertrauen wird ein äußerlich vermeintliches Risiko zur einladenden Herausforderung. Ohne dieses Vertrauen und Herzogs unbestechliches Durchhaltevermögen gäbe es Aguirre, wo plötzlich das gesamte belichtete Negativmaterial verschwunden war, oder Fitzcarraldo, bei dem nach etwa der Hälfte der Drehzeit Hauptdarsteller Jason Robards ausfiel und die ganze Arbeit von vorn begonnen werden musste, nicht.1
Ökonomische Bedenken oder gar Grenzen hielten ihn, der um seine Filme finanzieren zu können schon als Schüler in Nachtschicht als Punktschweißer arbeitete, auf Kreta als Fischer sowie als Arena-Clown beim Stierkampfveranstalter Charridas und Schmuggler von Unterhaltungselektronik in Mexico, ganz im Vertrauen auf das ökonomische Talent seines Halbbruders und Produzenten Lucki Stipetić nicht davon ab, seinen Träumen zu folgen, die mit dem Abbruch des Filmes beendet gewesen seien, „und als ein Mann ohne Träume woll[t]e ich nicht leben.“2
Selbst „wirkliche Katastrophen“, schlimme Unglücke, ernsthafte körperliche Verletzungen oder Erkrankungen hielten ihn nicht davon ab, seinen Weg zu gehen, seine Aufzählung vor allem im Kapitel „Tanz auf dem Seil“ lässt einen kopfschüttelnd manchmal schmunzeln, manchmal erschaudern. Selbst als er sich bei Fitzcarraldo eines Tages „alleine in einer Menge von Menschen (..) [wähnte], die mich aufgegeben hatten und an meiner Zurechnungsfähigkeit zweifelten“, ließ er sich nicht beirren. „Meine Tagebuchaufzeichnungen, die in meiner immer kleiner werdenden Handschrift geradezu unentzifferbar und mikroskopisch wurden, setzten damals im Dschungel für fast ein ganzes Jahr aus, das Jahr der Anfechtungen. Aber ich war immer bereit, mich allem geradewegs zu stellen, was auch immer die Arbeit und das Leben mir entgegenwerfen würden.“3
Und schließlich ist da noch ein weiteres Wesensmerkmal Werner Herzogs, das ihn zu dem machte, der er ist: Seine unbändige, unvoreingenommene und grenzenlose Neugier gepaart mit einem tiefgehenden technischen Verständnis, hoher Intelligenz, kindlichem Forschungsdrang und einem untrüblichen Selbstbewusstsein.
Mir war bewusst, dass ich – aus fast völliger Unkenntnis des Kinos – auf meine Weise Kino selbst zu erfinden hatte.4
Die Erzählweise Herzogs ist auf natürliche Weise konsequent, indem er das Buch nicht chronologisch entlang seiner Filme aufbaut, sondern auf Aspekte seiner Arbeiten immer dann zurückgreift, wenn es darum geht, dem Leser verständlich zu machen, wie prägende kreative Ideen entstanden und verfolgt, neue Verbindungen geknüpft oder kritische Situationen bewältigt und so Türen für neue Wege geöffnet wurden. Hierbei spielen immer wieder Personen eine Rolle, sei es als historisches oder charakterliches Vorbild oder als Unterstützer oder Helfer, die bereit waren, sich auf Herzogs Träume einzulassen. Ohne Begleiter wie Lucki Stipetić, Weggefährten wie seinen Produktionsleiter Walter Saxer und seine Kameramänner Thomas Mauch, Jörg Schmitt-Reitwein und Peter Zeitlinger hätte er seinen unbändigen Drang auf der Suche nach der ekstatischen Wahrheit niemals in dieser Form entfalten können. Aber es wird ebenso deutlich, wie er als die Keimzelle des Inszenierens des Undenkbaren auch sich selbst nie zu schade war, für seine Träume aber auch für ganz substanzielle Dinge wie die Nahrungssuche für den gesamten Stab von Aguirre nachts mitten im Dschungel einzustehen und dabei nicht nur massiven Komfortverlust, sondern gar hochgradig existenzielle Entbehrungen nicht zu scheuen. Auch hier zeigt er Verantwortungsgefühl, Tatkraft, Mut und gleichzeitig eine unbestechliche Zuverlässigkeit. Er war stets die Klammer, die in der unbändigen Komplexität seiner Projekte auf allen Ebenen zusammenhielt, und stets vorbildlich, hingebungsvoll und völlig frei von Allüren, voranschritt.
„Selbstreflexion, jedes Kreisen um den eigenen Nabel, ist mir zutiefst unangenehm“, offenbart Herzog, und entsprechend starr und emotionslos fällt seine Selbstbeschreibung aus, die er mit „Langsames Lesen, langer Schlaf“ überschreibt. Wenn er hingegen gleich anschließend von seinen Freunden oder zuvor seinen Frauen erzählt, werden Begeisterung und Wärme spürbar. Besonders bewegend beschreibt er seine Beziehung zu dem britischen Autoren Bruce Chatwin, der die Vorlage für Cobra Verde lieferte, den Herzog ihm schließlich auf seinem Sterbebett in Etappen vorführte. Sie beide waren auf das Tiefste durch ihre gemeinsame Liebe zum Reisen zu Fuß verbunden, und Herzog erbte schließlich Chatwins Rucksack, der ihn nicht nur zum Cerro Torre begleitete. „Bruce‘ und meine Art des Gehens zwang uns, Zuflucht zu suchen, mit Menschen in Kontakt zu treten, weil unsere Schutzlosigkeit das erforderte.“5
Und so wird deutlich, wie sehr Herzogs monumentale Wanderungen von München nach Paris, an der deutschen Grenze entlang und über die Alscharte, allesamt Grenzerfahrungen „in Momenten, die existenzielle Wichtigkeit für mich hatten“6, ihm einprägende Erfahrungen und Stärke bescherten.
Immer wieder (…) leitet sich die Bedeutung der Welt aus dem Kleinsten, sonst nie beobachteten ab, dies ist der Stoff, aus dem sich die Welt neu ergibt. Am Ende des Tages konnte der, der ging, die Reichtümer eines einzigen Tages schon nicht mehr zählen. Beim Gehen gibt es nichts zwischen den Zeilen, alles findet im unmittelbarsten und rabiatesten Präsens statt.7
Eine ähnlich kontemplative Wirkung spricht er der Oper zu: „Für einen beschränkten Zeitraum mit Musik zu arbeiten, Musik zu atmen, eine Welt in Musik zu verwandeln brachte mich immer vollständig auf meine eigene Mitte.“8 Zwischen 1985 und 2015 gestaltete er 26 Operninszenierungen auf vier Kontinenten, vor allem in Italien.9
Auch die Zusammenarbeit mit Edgar Reitz, eine der ersten von Herzogs vielfachen Arbeiten als Darsteller, findet Erwähnung; zwischen der Kübelkind-Episode „Der Hurenmörder“ („Rollen von Wahnsinnigen oder Schurken waren mir von da an auf den Leib geschrieben“) und seiner Verkörperung von Alexander von Humboldt in Die andere Heimat habe sich ein Kreis geschlossen. Edgar Reitz, der damals mit Alexander Kluge das Institut für Filmgestaltung an der HfG Ulm leitete, habe er eine stets kameradschaftliche Unterstützung und nachhaltige Kontakte z. B. mit Cutterin Beate Mainka-Jellinghaus zu verdanken. Reitz’s persönliche Einladung an die HfG indes schlug er, der konsequente Autodidakt, aus: „an Hochschulen habe ich nie geglaubt“.10
Der größte aller Schauspieler, mit dem er je zusammengearbeitet habe, ist für Werner Herzog Bruno S., sein Kaspar Hauser und Stroszek: „Sein Gesicht und seine eindringliche Sprache verliehen ihm eine bedingungslose Würde. Er war wie ein Verstoßener, der einem verwirrt entgegentaumelt aus einer langen, schlechten Nacht in einen noch schlechteren, grellen Tag. Er hatte eine Tiefe, Tragik und eine Wahrhaftigkeit, die ich sonst nie auf einer Leinwand gesehen habe.“11 Wo Herzog in Begeisterung und Liebe formuliert, werden seine Worte besonders poetisch.
Das Buch endet im Rahmen eines Philosophierens über „Das Ende der Bilder“ nach 335 Seiten mitten im Satz. Auch wenn Herzog dafür im Vorwort eine plausible Erklärung anbieten kann, zeugt diese Entscheidung nur einmal mehr von dem, was ihn wesentlich ausmacht: Sein Niveau, seine Unabhängigkeit, sein Vertrauen und seine Treue zu sich selbst.
Das Buch ist eine echte Empfehlung, nicht nur für Cineasten. Geschrieben in flüssiger und schnörkelloser und dennoch ureigener Weise, unverkennbar Werner Herzog. Ich freue mich besonders auf die von ihm selbst gelesene Hörbuchversion. Herzlichen Dank, lieber Werner Herzog, für diese absolut lesenswerten, unterhaltsamen und anregenden, vor allem aber zutiefst beeindruckenden Einblicke in Ihr Leben.
© Thomas Hönemann, www.herzog-werner.de, 22. August 2022
Werner Herzog: Jeder für sich und Gott gegen alle. Erinnerungen
Ausgaben:
gebundenes Buch: Carl Hanser Verlag (München), 353 Seiten, ISBN 978-3-44627-399-3, 28 €
e-Book, Carl Hanser Verlag (München), ISBN 978-3-446-27561-4, 20,99 €
Hörbuch: ungekürzte Autorenlesung auf zwei mp3-CDs, tacheles!/ROOF Music, ISBN 978-3-86484-775-2, erscheint am 31.8.2022 (digital bereits am 22.8.), UVP 26 €
heimat123.de empfiehlt buch7.de, den sozialen Buchhandel.
Eine Leseprobe finden Sie hier, eine Hörprobe hier.
Auf der Seite des Hanser Verlages finden Sie auch Termine von Buchpräsentationen mit Werner Herzog. Hervorzuheben ist darunter die (nachträgliche) Geburtstagsfeier und Buchpräsentation für und mit Werner Herzog. Musikalische Begleitung Ernst Reijseger, Mola Sylla und Harmen Fraanje, sowie „Cuncordu e Tenore de Orosei“ am 30 Oktober im Münchner Schauspielhaus.
Ankündigungstext des Verlages:
Werner Herzogs lang erwartete Erinnerungen erzählen ein Jahrhundertleben, wie es nicht einmal in einen seiner eigenen berühmten Filme passen würde. Ein immerzu hungriger Junge, mit der Mutter aus dem bombardierten München in ein bitterarmes Nest in den Alpen geflohen. Ein Jugendlicher, der ganz allein lostrampt und bald darauf im hintersten Ägypten im Fieberwahn auf den Tod wartet. Ein Liebender, ein Enthusiast, ein Getriebener: Ein Mann, der mitten im Dschungel leise auf den tobenden Klaus Kinski einredet, ein Mann, der weinend um seinen Freund Bruce Chatwin an dessen Sterbebett sitzt. Wüst und sanft, voller Lebensgier und Staunen über unsere Welt ist dieses Buch ein literarisches Ereignis.12
Herzlichen Dank an den Carl Hanser Verlag für die frühzeitige Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.
Abbildungsnachweis
- Cover © Carl Hanser Verlag
- Buchrücken (Beitragsbild) © Thomas Hönemann
- Auch Mick Jagger fiel folglich aufgrund der anstehenden Welttournee der Rolling Stones aus; Herzog verzichtete auf eine Umbesetzung und schrieb die Rolle aus dem Drehbuch, weil Jagger die Rolle des verstandesverlustigen Wilbur „so merkwürdig, so einzigartig“ (S. 164) mit Leben füllte. [↩]
- S. 197 [↩]
- S. 200 [↩]
- S. 130 [↩]
- S. 229 [↩]
- S. 241 [↩]
- S. 243 [↩]
- S. 312 [↩]
- vgl. S. 346 [↩]
- vgl. S. 293f. [↩]
- S. 306 [↩]
- https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/jeder-fuer-sich-und-gott-gegen-alle/978-3-446-27399-3/ [↩]